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„Stückchen Himmel“ Favelas: In der Krise besondere Problemzonen (Marbacher Zeitung – Sandra Brock 24.08.2020)

Thomas Zettler und seine Frau Júnia haben für die Kinder ein Stückchen Himmel geschaffen.

Der Marbacher Thomas Zettler hat in Brasilien eine Tagesstätte für Kinder aus Armenvierteln gegründet. Corona trifft das Land, die Region und das Umfeld stark.

Marbach/Brasilien – Armut, Unterernährung, Krankheit und Kriminalität gehörten schon vor Corona zum täglichen Leben der Kinder in den Favelas von Aracaju, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Sergipe. Dort hat der Marbacher Thomas Zettler eine Tagesstätte für eben diese Kinder aufgebaut – unter anderem mit der Unterstützung des Fördervereins Stückchen Himmel aus Marbach. Doch wie sieht das Leben und die Arbeit in und nahe den Favelas in Zeiten der Krise aus? Thomas Zettler gibt im Gespräch einen Einblick in den Alltag.

Im vergangenen Jahr haben Sie noch Ihr neues Schulgebäude eingeweiht, im Dezember gab es auf dem Marbacher Weihnachtsmarkt wieder einen Info- und Verkaufsstand von Stückchen Himmel. Dann kam Corona. Wann und wie wurden Sie mit der Krise konfrontiert?
Anfang März waren Júnia und ich für wenige Tage in Deutschland, um den runden Geburtstag meiner Mutter zu feiern. Da erlebten wir bereits die ersten Vorsichtsmaßnahmen gegen Corona. Zurück in Aracaju verbrachten wir 14 Tage in Quarantäne. Und dann ging’s auch in Brasilien schon los . . . Heute ist Brasilien mit über 100 000 Corona-Toten, nach den USA, das am stärksten betroffene Land weltweit.

Wie waren die Auswirkungen für Ihre Kindertagesstätte und die Schule?
Normalerweise erteilen wir in Stückchen Himmel Ganztagesunterricht für über 200 Kinder. Ende März erging der Erlass unseres Bundesstaates Sergipe, dass alle Schulen den Präsenzunterricht einzustellen hätten. Seither erteilen wir Fernunterricht.

Wie sind Sie damit umgegangen?
Stückchen Himmel setzt in dieser Lage folgende Schwerpunkte: Fernunterricht, Verteilen von Informationen und Masken sowie von Lebensmitteln. Der Fernunterricht findet montags bis freitags von 7.15 bis 12.50 Uhr statt, für die Oberstufe dazu noch drei Mal pro Woche nachmittags. 15 unserer Lehrer machen den Fernunterricht von sich zuhause aus, dazu hat jede Klasse noch einen Koordinator zugeteilt. Wir entschieden uns aus mehreren Gründen, Fernunterricht erst ab der vierten und bis zur zwölften Klasse zu erteilen. In Stückchen Himmel ist es generell so, dass wir am Schuljahresanfang einige sehr arme, kleine Kinder aufnehmen. Im Laufe der Jahre dürfen wir in vielen Fällen zumindest eine kleine finanzielle Besserung der Familien beobachten – wir denken, Stückchen Himmel hat seinen Anteil daran. Ab der vierten Klasse sind die meisten unserer Familien doch soweit stabilisiert, dass sie wenigstens irgendein Handy haben und so begleiten etwa 85 Prozent unserer Schüler den Unterricht. Hauptsächlich über WhatsApp und Bücher. Das funktioniert überraschend gut und so laufen pro Tag und Klasse schon mal 1000 Messages auf.

Wie haben Sie die Krise in Ihrer Arbeit erlebt? Was hat sich verändert?

Am Anfang der Coronakrise erlebten wir einen starken Spendeneinbruch. Vielleicht dachten viele Spender, dass wir in Zeiten des Fernunterrichts weniger Mittel bräuchten. Dies ist aber nur in geringem Maße der Fall, da unsere Hauptausgaben im Bereich der Mitarbeitergehälter liegen und wir niemand wegen Corona entlassen wollten – und dies bisher auch vermeiden konnten. Gott sei Dank hat sich die Spendensituation nun wieder gebessert. Im Alltag fehlt uns der persönliche Zusammensein mit den Kindern. Wir hoffen, dass die Dinge bald wieder zur Normalität zurückkehren können; wahrscheinlich ist dies aber erst mit dem neuen Schuljahr der Fall, welches hier im Januar beginnt.

Waren Sie persönlich von Corona betroffen?
Persönlich waren wir insofern betroffen, dass der Vater meiner Frau nach mehreren Tagen auf der Intensivstation an Covid-19 verstarb. Das war nicht leicht. Auch ein Bruder meiner Frau erkrankte, ist aber wieder wohlauf. Zwei meiner Söhne und ich sind Typ-1-Diabetiker, was uns in die Corona-Risikogruppe einreiht. Angesichts des schwachen brasilianischen Gesundheitssystems sind wir dankbar, dass wir selbst bisher vor Schlimmerem bewahrt wurden.

Die ganze Region um Aracaju, der Hauptstadt Bundesstaates Sergipe, war stark von Corona betroffen. Wie machte sich das bemerkbar?
Die Coronawelle ist in Brasilien auf ein marodes Gesundheitssystem getroffen und Sergipe zählt zur ärmsten Region Brasiliens, dem Nordosten. In aller Eile wurde versucht, die sehr niedrige Intensivbettenzahl zu erweitern. Erkrankt sind sehr viele: der Bürgermeister, der Gouverneur unseres Bundesstaates und seine Vertreterin sowie – wahrscheinlich weltweit bekannt – der brasilianische Präsident Bolsonaro, welcher die Coronagefahr geringredet.

Corona forderte in Brasilien viele Opfer. Auch in Ihrem Umfeld?
Die Zahl der Todesfälle ist in Sergipe in Bezug auf die Bevölkerung etwa siebenmal höher als in Deutschland. Vor diesem Hintergrund sind wir Gott dankbar, dass bisher niemand mit unmittelbaren Bezug zur Kindertagesstätte, also Mitarbeiter, Schüler oder Eltern, verstorben ist, trotz einiger Krankheitsfälle.

Armut, Unterernährung, Krankheit und Kriminalität gehörten schon vor Corona zum täglichen Leben der Kinder in den Favelas. Wie ging man dort mit der Krise um?
Die Favelas sind in der Coronakrise besondere Problemzonen. Obwohl dort das Durchschnittsalter der Menschen recht jung ist, sind doch viele Bewohner gesundheitlich angeschlagen und leben in hygienisch katastrophalen Bedingungen. Zudem hausen viele Menschen dicht beieinander. So hoffen und beten wir um Bewahrung. Fast alle „Favelados“ haben keine geregelte Anstellung oder Ersparnisse und können sich daher kaum an die Stay-Home-Empfehlungen halten. Andere haben ihre Arbeitsstellen verloren. Die ohnehin schon extreme Kriminalität hat in der Pandemie noch zugenommen. Es ist damit zu rechnen, dass die Covid-19-Krise die Armut im Land vergrößern wird.

Konnten Sie auch im Umfeld um die Schule helfen?
Wir haben an viele Familien nichtverderbliche Lebensmittel, Stoffmasken und Informationen verteilen können. Das ist alles durch Spenden möglich geworden. Vielen Dank dafür!

Inwieweit hat sich die Situation mittlerweile entspannt?
Die Zahl der täglichen Todesfälle scheint in Brasilien endlich eine zaghafte Besserung zu vermelden und wir alle hoffen, dass dies Zeichen eines beständigen Rückgangs sein wird. Obwohl wir uns noch fast am Höhepunkt der Welle befinden, wurden in den letzten Tagen schon Erleichterungen wie die Öffnung von Einkaufszentren erlaubt, was hoffentlich zu keinem neuen Anstieg führt.

Wenn Sie einen Blick in ihre Heimat werfen, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Bilder von den Demonstrationen gegen Maskenpflicht und Ähnliches sehen?
Natürlich verstehe ich, dass wir uns alle wieder eine Rückkehr zur Normalität wünschen. In Aracaju sehen wir, trotz der hohen Infektionsrate, häufig gerade junge Menschen ohne Masken in der Öffentlichkeit. Ich empfinde es als egoistisch, wenn Menschen, die nicht aus Risikogruppen stammen, sich sicher fühlen und in verantwortungsloser Weise andere gefährden. Ich bin froh, dass Deutschland bisher einigermaßen gut durch die Pandemie gekommen ist. Aus der genannten persönlichen Betroffenheit besorgt es mich, wenn in Deutschland gegen die Maskenpflicht demonstriert wird und schon Erreichtes aufs Spiel gesetzt wird. Haben wir noch etwas Geduld mit dem Maskentragen, bis sicheres Fahrwasser erreicht ist!

Zur Person
Thomas Zettler  stammt aus Marbach, ist 52 Jahre alt und lebt seit 1999 in Brasilien. Er ist  mit Cinira (genannt Júnia) verheiratet, das Ehepaar hat drei Söhne. 2002 gründeten Thomas und Júnia Zettler in der Großstadt Aracaju eine Tagesstätte für Kinder aus den Armenvierteln, den Favelas. Inzwischen betreuen sie mit ihrem Team in „Cantinho do Céu“ (Stückchen Himmel) etwa 215 Kinder ab einem Jahr bis zum Schulabschluss in der 12. Klasse. Dies geschieht normalerweise durch staatlich anerkannten Ganztagesunterricht und schließt drei Mahlzeiten pro Schultag ein. Viele Menschen aus dem Marbacher Raum unterstützen die Tagesstätte über den Förderverein Stückchen Himmel  oder den CVJM Marbach. Thomas Zettler: „Wir möchten an dieser Stelle allen von Herzen danken, die diese Arbeit möglich machen. Wir sind so froh über Ihre Hilfe!“ Weitere Infos über den Förderverein und Hilfsmöglichkeiten gibt es im Internet unter www.stueckchen-himmel.org.

Bericht im Schwarzwälder Boten vom 31.12.2018 über die Brasilienreise 2018 des Fördervereins.